Ein Abend über die Mundartdichterin Andrea Noll  (1961 – 2019)

von Dietlinde Ellsässer & Autor Walle Sayer

Ein Abend
über die Mundartdichterin Andrea Noll,
über das Dorf im Wandel der Zeiten,
übers Aufwachsen und die Mundart,
Über die Heimat und den Kirchhof,
Himmelreich und Wolfsgrube,
Lichtrechnung und Molke.

Dein Kaugummikastengedicht gefällt mir sehr, weckt Erinnerungen an den roten Kasten vor dem „Schuaster“, wo die Kugeln im Sommer so schwitzig waren, daß man ganz farbige Hände hatte, und im Winter so kalt, daß sie beim Zerbeißen im Mund zu Staub zerfallen sind – mit so einem ganz ätzend bitteren Geschmack – kennst du das noch? Außerdem hat man immer gedacht, mit dem nächsten Zehnerle holt man ganz sicher das schönste Spielsächle aus dem Kasten – ein Ringle oder Autole mit beweglichen Rädern. Und dann wars jedesmal nichts – irgendwie ein Lebensgefühl, das geblieben ist…

(Andrea Noll, in einem Brief vom Juli 2000 an Walle Sayer)

So paradox es klingen mag, aber wer heute „die weite Welt“ finden will, muß zuerst in ein Schneckenhaus kriechen“… schrieb Andrea Noll, die am 2.12.1961 in Bierlingen geboren wurde und am 25.5.2019 in Reutlingen starb.

Sie hat 1981 Abitur gemacht am Eugen-Bolz-Gymnasium in Rottenburg und danach an der Uni Tübingen einige Semester Germanistik und Anglistik studiert. Da sie keine Möglichkeit sah, in den Schuldienst übernommen zu werden, brach sie das Studium ab und zog Ende 1983 nach Reutlingen. Sie machte im Behindertenheim Rapertshofen eine Ausbildung zur Heilerzieherin. Diesen Beruf konnte sie dann aufgrund einer Krankheit, die sie sehr beeinträchtigte, nicht mehr ausüben. Mitte der 8oer Jahre datierte sie ihre ersten Schreibversuche. Andrea Noll schrieb Mundartgeschichten, Hörspiele und Gedichte, aber auch hochdeutsche Prosa. Eine Kassette und eine CD sind zu Lebzeiten von ihr erschienen, Dietlinde Ellsässer und Berthold Biesinger traten mit ihren „Gschichten von dahoim“ unzählige Male auf, der SWR sendete lange Jahre ihre Hörspiele.

„Aus der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft denken“: Ihre Erzählungen beschreiben in erstaunlich authentischer Weise, mit hohem künstlerischem und gleichzeitig dokumentarischen Wert, die dörflich-bäuerliche Gesellschaft bis weit in die Großelternzeit zurück. Das Dorf sah sie als „wechselwirksames Gefüge“. „ Wahrscheinlich“, sagte sie über ihre Kindheit, „haben wir schon damals irgendwie gefühlt, daß wir an einer Nahtstelle zwischen einer alten, sterbenden und einer neuen, vollkommen anderen Zeit aufwachsen“.

Sie ging den Dialektwörtern auf den Grund: Verschlupfen, notierte sie einmal, sei nur möglich, wo organisch gewachsene Unordnung herrsche, wo es Verwinkeltes und Krummes gäbe und alte Schöpfe. Was es zu retten gilt, ist ihrer Ansicht nach nicht der Dialekt an sich, der sich organisch verändert, sondern die Inhalte, die Kultur, die mit dem jeweiligen Dialekt verbunden sind. Ein paar „Behelfsbrückle“ zur Vergangenheit errichten, wenn die großen Brücken schon abgerissen sind, nannte sie das…

Die Schauspielerin Dietlinde Ellsässer und der Autor Walle Sayer wollen einen Abend lang in einem Lebensbild die Geschichten und Gedichte von Andrea Noll wieder aufleben und erklingen lassen. Unveröffentlichtes vorstellen und mit Auszügen aus der langjährigen Briefkorrespondenz mit Walle Sayer sie selbst zu Wort kommen lassen: zu ihrer Dorfkindheit, ihrem Aufwachsen, ihrem Heimatbegriff, ihrer Dialektdichtung.